Strategie 2020 - Forschung, Technologie und Innovation für Österreich / 4. Forschung, Technologie, Innovation und Gesellschaft

4. Forschung, Technologie, Innovation und Gesellschaft

Status und Herausforderungen

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Im Konzept der „Wissens-basierten Gesellschaft“ werden Wissenschaft, Forschung und Innovation als entscheidende Kraftfelder der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet. Sie durchdringen sämtliche Lebens- und Handlungsbereiche und gelten als unabdingbar für die Verbesserung unserer Lebensqualität sowie die Sicherung unserer Wettbewerbsfähigkeit und damit unseres Wohlstands. Ihnen wird die Aufgabe übertragen, Antworten und Lösungen auf die großen Fragen und Probleme unserer Zeit zu finden.

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Je mehr Wissenschaft und FTI individuell spürbar das Leben jedes Einzelnen verändern, umso mehr sind sie auch dazu aufgefordert, diese (potentiellen) Veränderungen anzusprechen und (vorausschauend) öffentlich zu diskutieren. Gleichzeitig gibt es jedoch kaum einen Bereich der Gesellschaft, über den die Öffentlichkeit so wenig Konkretes weiß, wie über Wissenschaft und Technologie. So ist weitgehend unbekannt, wie Wissenschaft und Forschung tatsächlich arbeiten, wie Erkenntnisse entstehen und in welcher Form diese auch kulturelle Leistungen darstellen. Wenn aber das Wissen über diese Thematik fehlt, darf es nicht verwundern, dass in öffentlichen Diskursen zumeist Begriffe wie „Risiko“ und „Unsicherheit“ dominieren und eine faktenbasierte Diskussion nur schwer möglich ist.

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Dabei mangelt es nicht grundsätzlich am Interesse der ÖsterreicherInnen an Erfindungen, Technologien und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Laut Vergleichserhebungen liegt dieses nur leicht unter dem europäischen Durchschnitt (siehe Abbildung 3). Allerdings ist die Meinung, dass man „im täglichen Leben … kein Wissen über Wissenschaft“ benötigt, deutlich öfter als im Rest Europas zu finden. Die Bereitschaft, sich mit Petitionen und Demonstrationen „gegen Atomkraft, Gentechnologie und für Umweltschutz“ an der Diskussion dieser Themen zu beteiligen, ist hierzulande deutlich über dem europäischen Schnitt, wohl auch weil Konsultations- und Dialogverfahren in Zusammenhang mit Wissenschafts- und Technologiepolitik wenig Tradition haben. „Wissenschaftlich-technische Entwicklungen wie etwa Gentechnik und Nanotechnologie wurden und werden in erster Linie als Projekte der im Förderungsbereich institutionalisierten Eliten betrieben und die Involvierung der Öffentlichkeit, aber auch des Parlaments, wird der Tendenz nach vermieden.“

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Abbildung 3: Einstellung der ÖsterreicherInnen zu Wissenschaft und FTI im internationalen Vergleich

Quelle: Europäische Kommission 2005.

Hier können Sie Abbildung 3 in einer hochauflösenden Version öffnen:


Defizite der Kommunikationskultur

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In Österreich sind die Wissenschaftskommunikation sowie partizipative Diskussions- und Gestaltungsverfahren aufgrund von Diskontinuitäten in der Wissenschafts- und FTI-Kommunikation, dem Fehlen zentraler AkteurInnen (z.B. Stiftungen, Universitäten und Museen/Science Centers) sowie einer bedenklichen Nähe des geforderten „echten“ Dialogs zu den alltäglichen Interessen der Politik deutlich unterentwickelt. Die offizielle Rhetorik des Vermittlungsbedarfs von Wissenschaft und FTI wird durch die Begriffe „awareness“, „Akzeptanzförderung“ und „Nachwuchsförderung“ dominiert. Der Dialog mit den BürgerInnen wird zwar immer wieder gefordert, es lässt sich jedoch eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit feststellen. Das „selling Science“ steht immer noch deutlich im Vordergrund.

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In dieses Bild passt, dass ein effektiver Ausbau der wissenschaftlichen Infrastruktur des Parlaments noch immer fehlt. So verfügt Österreich nicht – wie international üblich – über ein formal an das politische System angebundenes Institut für Technologiefolgenabschätzung. Darüber hinaus kommt es durch die individualisierte, oft parteienkonforme Beiziehung von ExpertInnen zu fragmentierten Einflüssen auf Ausschüsse und Abgeordnete. Der Proporz prägt die Entscheidungsfindung somit auch bei wissenschaftlichen und forschungspolitischen Fragestellungen.

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Der Rat hat sich deshalb schon frühzeitig mit Fragen der Wissenschaftskommunikation auseinandergesetzt und mit der Initiierung der Kampagnen „Innovatives Österreich I“ und „Innovatives Österreich II“ sowie der Durchführung partizipativer Verfahren wichtige Schritte gesetzt. Seit dem ersatzlosen Auslaufen der Initiative „Innovatives Österreich“ im Jahr 2006 fehlen in Österreich nun aber Abstimmung, Vernetzung und Förderung von Maßnahmen im Bereich der Wissenschafts- und FTI-Kommunikation.

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Abgesehen von den fehlenden Strukturen läuft die Adressierung einer allgemeinen Öffentlichkeit im Zuge von Awareness-Maßnahmen Gefahr, auf jeden abzielen zu wollen, dabei aber niemanden mehr zu erreichen. Verschiedene Studien zeigen, dass es „die breite Öffentlichkeit“ nicht gibt, sondern vielmehr eine Vielzahl von Öffentlichkeiten, die sich vor allem entlang unterschiedlicher Bedürfnisse, Betroffenheiten und Interessen (zum Beispiel zu Fragen der Umwelt, Ernährung oder Gesundheit) bilden. Gleichzeitig ist jedoch zu bedenken, dass auch ein Verständnis von Zielgruppenansprache als einem effizienten Absetzen von Botschaften bei werblich definierten Gruppen, denen die „Produkte“ Wissenschaft und FTI „verkauft“ werden sollen, zu kurz greift.

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Das Verhältnis zwischen Wissenschaft/FTI und Gesellschaft ist nicht allein auf die Frage nach der passenden Form der Informationsvermittlung reduzierbar. Ein produktiver Dialog braucht Kommunikations- und Verhandlungsformen, die nicht nur wachsenden demokratischen Anforderungen entsprechen, sondern auch eine Übersetzungsfunktion in Wertekonflikten einnehmen können. Dadurch werden Möglichkeiten und Räume für die kritische Prüfung und die informierte Diskussion wichtiger Fragen von öffentlichem Interesse erögffnet, an denen die Zivilgesellschaft, Interessengruppen, WissenschafterInnen und ForscherInnen sowie politische EntscheidungsträgerInnen teilnehmen, um derart „sozial robustes Wissen“ herzustellen. Der Erfolg solcher partizipativer Verfahren hängt dann aber davon ab, dass die gesellschaftlichen Inputs tatsächlich in den politischen Willensbildungsprozess rückgekoppelt werden und das gesellschaftliche Engagement damit eine gewisse Nachhaltigkeit erfährt.

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Ethik und Moral

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Die Tatsache, dass Wissenschaft/FTI immer stärker neben „Erkenntnis“ auch „Handeln“ und „Gestalten“ bedeuten, ist schließlich auch eine Herausforderung für Ethik und Moral in diesen Bereichen. Die moderne Wissenschaft und Forschung geben uns heute Mittel in die Hand, die Welt und auch den Menschen zu verändern und zu gestalten. Daraus leitet sich ihre Verantwortung nicht nur gegenüber der gegenwärtigen, sondern auch gegenüber zukünftigen Generationen ab..

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Der öffentliche Diskurs der sich daraus ergebenden, ethisch brisanten Fragen im Zusammenhang mit Wissenschaft und FTI wird heute vorwiegend in den Medien geführt. Eine ethische Meinungsbildung der WissenschafterInnen und ForscherInnen an den Universitäten findet derzeit ebenso nur begrenzt statt wie an den außeruniversitären Forschungseinrichtungen oder in den Unternehmen – ein Umstand, der dazu führt, dass die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Werte, in welche Wissenschaft und FTI eingebettet sind bzw. auf welche sie ihrerseits einwirken, zumeist nicht reflektiert werden.

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Grundsätzlich müssen zwei Dimensionen der Ethik in der Wissenschaft unterschieden werden: Einerseits gibt es die „wissenschaftliche Redlichkeit“, welche u.a. die Forderung nach getreulicher Quellenangabe, nach Kontrollierbarkeit und Wiederholbarkeit von Experimenten, nach sorgfältiger Trennung von eigenem und fremden Gedankengut und schließlich nach dem Gemeinbesitz wissenschaftlichen Wissens enthält. Mit der Bildung der „Agentur für wissenschaftliche Integrität“ im November 2008 wurde hier ein wichtiger Schritt gesetzt.

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Andererseits gibt es das „Ethos wissenschaftlicher Verantwortung“ , welches die ethische Reflexion von Wissenschaft und FTI verlangt, wo und wenn der rasche wissenschaftliche und technische Fortschritt ernste moralische Fragen aufwirft, die die Gesellschaft insgesamt in ihren Werten betreffen und sich auch auf künftige Generationen auswirken (können). Dieses Ethos verlangt nach einer ethischen Reflexion sowohl der Ziele von Wissenschaft und Forschung – samt der ihnen zugrunde liegenden Welt- und Menschenbilder – als auch der Mittel, derer sich Wissenschaft und Forschung bei der Realisierung dieser Ziele bedienen.

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Angesichts der Tatsache, dass sich mit der rapiden Zunahme des Wissens unsere Handlungsoptionen zur Gestaltung der Welt vervielfachen, wird es zunehmend wichtiger, sich damit auseinander zu setzen, welches Wissen wir brauchen und wie wir unser von den Wissenschaften und der Forschung erzeugtes Wissen verwenden (wollen). Das immer noch gängige Wissen(schafts)modell, welches Wissen strikt von seiner Anwendung trennt, muss demnach kritisch hinterfragt werden, vor allem auch auf Seite der WissenschafterInnen und ForscherInnen. Zu begrüßen ist daher aus Sicht des Rates die Initiative des Joanneum Research, wo eine Arbeitsgruppe „Ethik in Wissenschaft und Technologie“ eingesetzt wurde – mit der Aufgabe der Entwicklung einer Ethik-Charta, welche die „Einordnung der Ziele und Methoden von Forschung und Technik in auf das Ganze des menschlichen Lebens gerichtete Perspektiven“ zur Grundlage hat.

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Strategische Leitlinien und Empfehlungen

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.Der Rat betrachtet es als Bringschuld von Wissenschaft und Forschung, die Gesellschaft breit und umfassend über ihr Tun und Handeln sowie über ihre Erkenntnisse und Entwick-lungen zu informieren. Dazu müssen vielfältige, vor allem aber nachhaltige Möglichkeiten des Dialogs bereitgestellt werden, um einer breiten Öffentlichkeit bzw. unterschiedlichen Teilöffentlichkeiten den Raum zur kritischen Reflexion zu bieten. Dies entspricht auch der Forderung, die sich auch im Aktionsplan „Wissenschaft und Gesellschaft“ der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2002 findet: „In einer Wissensgesellschaft muss demokratisches Regieren dafür sorgen, dass die Bürger die Möglichkeit haben, sich in voller Kenntnis der Sachlage an der Wahl der Optionen zu beteiligen, die ein verantwortungsvoller wissenschaftlich-technischer Fortschritt bietet“ .

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SL 4 Strategische Leitlinie: Strukturen für aktiven Dialog und Partizipation schaffen

Das ersatzlose Auslaufen der Dialogprogramme im Rahmen der Initiative „Innovatives Österreich“ hinterlässt eine Lücke in den Rahmenbedingungen und Strukturen für einen aktiven Dialog von wissenschaft und Gesellschaft. Es gilt Räume und Möglichkeiten zu schaffen, in denen die Zivilgesellschaft, WissenschafterInnen, ForscherInnen umnd Interessensgruppen gemeinsam Wissenserwerb und Wissensverwertung einem kritischen Diskurs unterwerfen.

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Der Rat empfiehlt:

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Empfehlung 4.1

VertreterInnen des Rates, der Ressorts, der Forschung, der Scientific Community, von Stakeholdern und der Zivilgesellschaft sollen gemeinsam eine Strategie zur Gestaltung des Dialogs zwischen Wissenschaft/Forschung und Gesellschaft entwickeln.

> 2010

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82

Monitoring: Der Rat unterstützt und begleitet die weitere Entwicklung im Zusammenhang mit der Entwicklung einer Strategie zur Gestaltung des Verhältnisses von Wissenschaft/FTI und Gesellschaft.

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Empfehlung 4.2

Die „Lange Nacht der Forschung“ soll als nationales Festival jährlich durchgeführt werden. Dabei ist jedoch verstärkt darauf zu achten, dass sich diese und ähnliche Aktivitäten der Wissenschaftskommunikation künftig weder als „Erziehungsprogramme“ noch als „Verkaufsshows“ darstellen, sondern sich um einen partnerschaftlichen Dialog von Wissenschaft und Gesellschaft bemühen.

> 2010

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84

Empfehlung 4.3

Für WissenschafterInnen/ ForscherInnen soll ein Anreizsystem entwickelt werden, sich aktiv auf den Dialog mit der Öffentlichkeit einzulassen. Dieses Engagement soll als zusätzliches Merkmal wissenschaftlicher Reputation gelten.

> 2013

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85

Empfehlung 4.4

Der Dialog „Wissenschaft/Forschung und Gesellschaft“ soll institutionalisiert werden, idealtypisch in Form einer unabhängigen Institution. Da dies nur durch entsprechende Qualität der Verschränkung von partizipativen Verfahren und politischem Entscheidungsprozess möglich ist, soll sichergestellt werden, dass diese Institution politische Anbindung besitzt.

> 2013

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86

Monitoring: Der Rat wird eine Arbeitsgruppe einsetzen, welche die Entwicklungen begleitend vorantreiben wird.

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Empfehlung 4.5

Die wissenschaftliche Infrastruktur des Parlaments (Wissenschaftlicher Dienst) soll mit der Aufgabe der Einholung, Aufbereitung und Bereitstellung unabhängiger Expertise ausgebaut werden. Das Institut für Technologiefolgenabschätzung (ITA) soll stärker mit dem Parlament bzw. dem Wissen-schaftlichen Dienst des Parlaments vernetzt werden. In weiterer Folge soll die wissenschaftliche Begleitforschung in Zusammenhang mit der Entwicklung neuer Technologien ausgebaut werden.

> 2013

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88

SL 5 Strategische Leitlinie: Bewusstmachung der ethischen Dimension von Wissenschaft, Forschung und Technologieentwicklung

Im Zuge des Dialogs zwischen Wissenschaft und Gesellschaft müssen Methoden und Strukturen etabliert werden, die nicht nur Raum für die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts bieten (Stichwort: Technikfolgenabschätzung), sondern auch erlauben, bereits in einem frühen Stadium der wissenschaftlichen Arbeit danach zu fragen, welche Ausgangspunkte, welche Normen und Wertesysteme sowie welche Welt- und Menschenbilder den wissenschaftlichen Fragestellungen eigentlich zugrunde liegen.

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Der Rat empfiehlt:

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Empfehlung 5.1

Forschungseinrichtungen und Universitäten sollen selbstständig die Etablierung von Ethikdiskursen in die Hand nehmen. Kernaufgabe ist die Entwicklung und Etablierung ethischer Richtlinien sowie die Kommunikation derselben nach außen. Der Ethikdiskurs ist verstärkt inter- und transdisziplinär zu führen. Universitäre Angebote in den Bereichen Wissenschafts-, Forschungs- und Technikethik sollen an allen Universitäten aussgebaut und attraktiver gestaltet werden.

> 2013, 2020

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